Rezensionsessay: Österreichische Zeitgeschichte – Zeitgeschichte in Österreich

Cover
Titel
Österreichische Zeitgeschichte – Zeitgeschichte in Österreich. Eine Standortbestimmung in Zeiten des Umbruchs


Herausgeber
Gräser, Marcus; Rupnow, Dirk
Reihe
Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek (41)
Erschienen
Anzahl Seiten
872 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannes Obermair, Eurac Research, Bozen/Bolzano

Mit einem Umfang von fast 900 Seiten bietet der schwer in der Hand liegende Band einen umfassenden Überblick zum Stand, den Aufgaben und dem Selbstverständnis zeithistorischer Forschung in Österreich. Aufgrund des breiten Themenspektrums und der methodischen Vielfalt von Fragerichtungen und Forschungsansätzen ist das Buch keineswegs allein für Österreich repräsentativ, sondern durchaus ein Nachschlagewerk, das für den ganzen deutschsprachigen Raum interessant ist. Insgesamt 46 Autoren und Autorinnen skizzieren in ihren Beiträgen zentrale Forschungsfelder des Fachs, wobei immer wieder ein bilanzierender Ton auffällt, der auf das spezifisch österreichische Bedürfnis nach vielfach erstmaliger wissenschaftsgeschichtlicher Einordnung verweist.

Diese Selbstthematisierung charakterisiert bereits den Leitartikel des Doyens der österreichischen Zeitgeschichtsforschung, Helmut Konrad, der 1976 die Reihe „Zeitgeschichtliche Bibliothek“ initiiert hatte, in der die Publikation erscheint. Seine knappen, aber pointierten Ausführungen rufen eindrücklich in Erinnerung, wie mühsam die Anfänge der österreichischen zeithistorischen Forschung nach 1945 gewesen waren. Deren kritische Anliegen mussten sich nicht nur gegenüber den durch Austrofaschismus und Nationalsozialismus moralisch so stark kompromittierten, aber immer noch wirkmächtigen akademischen Kohorten der ersten Jahrhunderthälfte behaupten. Ihre oftmals reaktionären Vertreter versuchten in der Zweiten Republik unverhohlen, Universitäten und Akademien sowie deren Publikationsorgane gegen eine wirkungsvolle Erneuerung und antifaschistische Selbstbesinnung abzuschotten – so waren sie keinesfalls bereit, die innovativen Anregungen aus dem frankophonen und angelsächsischen Raum produktiv aufzugreifen oder etwa remigrationsbereiten NS-Vertriebenen jenes Umfeld zu bieten, das die Marginalität des Fachs Zeitgeschichte hätte lindern können. Streitkulturen konnten sich unter solchen Bedingungen kaum entfalten (eine Diagnose, die die Herausgeber auch auf die Jetztzeit übertragen), und es waren zunächst nur punktuelle Initiativen, die im „Musterland der Verdrängung“ erstmal den Horizont erweiterten und Forscher:innen wie Erika Weinzierl, Ludwig Jedlicka oder Gerald Stourzh zu verdanken waren.

Weniger isoliert als diese noch vielfach einsam agierenden Pionier:innen konnte eine „zweite Generation“ seit den 1970er- und 1980er-Jahren eine breitere Verankerung des Fachs durchsetzen und insbesondere eine enge, dringend nötige Verflechtung mit den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften herstellen. Impulse aus Wien, Graz und Innsbruck, daneben auch aus Linz und Klagenfurt verbreiteten mehr und mehr die Prärogativen einer ergebnisoffenen, den Untiefen der österreichischen Erinnerungskulturen gegenüber kritischen und nunmehr für internationale Anregungen endlich aufgeschlossenen Disziplin. Zu den Schlüsselwerken dieser Phase zählen Ernst Hanischs souveräne gesellschaftsgeschichtliche Gesamtdarstellung Der lange Schatten des Staates (1994), außerdem die detaillierte österreichische Gewaltgeschichte aus der Feder von Gerhard Botz (1976) und Heidemarie Uhls Werk zu Österreichs historischer Identität (1992).1 Curriculare Reflexion gehörte zum neuen Selbstverständnis solcher Forschungsleistungen, die lange Zeit verinnerlichte Tabus ignorierten und für einen Quantensprung wissenschaftlicher Qualität sorgten. Daran konnte die „Generation Gedächtnis“ wissenschaftspraktisch anschließen – diese jüngsten Akteur:innen profitierten nicht nur von der durch ihre Vorgänger:innen angestoßenen Forschungskonjunktur, sondern verstärkten die internationale Orientierung des Fachs durch eine sprunghaft angestiegene Berufung von Forschenden aus dem Ausland.

Hierfür stehen bereits die ursprünglich aus Deutschland stammenden zwei Herausgeber der „Standortbestimmung“: Ihre Karrierewege haben Marcus Gräser und Dirk Rupnow nach Linz und Innsbruck geführt, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade ihre konzise Einleitung ein „Gruppenporträt der Zeitgeschichtsforschung in Österreich“ (S. 9) zeichnet, das man noch vor wenigen Jahren in dieser Form nicht zu Gesicht bekommen hätte. Es verzichtet auf gefällige Selbstbespiegelungen und skizziert vielmehr den institutionell-organisatorischen Unterbau, auf den sich die aktuelle wissenschaftliche Praxis in Österreich stützen kann. Neben den Universitäten, deren exklusiver Forschungsimperativ längst fragwürdig geworden ist, sind es außeruniversitäre Wissenschaftsleistungen von Archiven, Gedenkstätten und Einrichtungen wie dem Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (seit 2009) oder dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (seit 1963), die das historiographische Feld nachhaltig erweitert und bereichert haben – bei den musealen Einrichtungen gilt das weniger für die Landesmuseen als vielmehr für die drei Jüdischen Museen in Eisenstadt, Hohenems und Wien sowie für das erst 2018 in der Wiener Hofburg am Heldenplatz begründete Haus der Geschichte Österreich und sein 2017 in St. Pölten inauguriertes Pendant (im Museum Niederösterreich). Man erfährt überdies, dass die erstmalige Einrichtung des im Zweijahresrhythmus stattfindenden Österreichischen Zeitgeschichtetags 1993 auf eine kritische Anregung des damaligen ÖVP-Wissenschaftsministers Erhard Busek zurückzuführen war, der den Bedarf an eigenständiger Reflexion des Fachs mit dem obszönen Lob des FPÖ-Politikers Jörg Haider für die angeblich „ordentliche Beschäftigungspolitik“ des Nationalsozialismus wirkungsvoll begründete (S. 14f.).

Damit sind wichtige Zäsuren und Kontroversen angesprochen, die vor allem mit der Waldheim-Debatte von 1986/87 die eher konfliktscheue österreichische Zeitgeschichtsforschung vor neue Herausforderungen stellten. Hier diagnostizieren die Herausgeber nach wie vor weitgehend auf Konsens bedachte Dispositionen; selbst die begrifflichen Konflikte um „Austrofaschismus“ und „Ständestaat“ als sich gegenseitig ausschließende Charakterisierungen des faschistoid-autoritären Korporativstaats der Zwischenkriegszeit bis zum „Anschluss“ vom März 1938 seien völlig abgeflaut. Als weiteres Defizit und mangelnde disziplinäre Gesprächskultur wird das Rezensionswesen benannt, das in den nationalen Fachzeitschriften kaum in Schwung kommt und beispielsweise in einem so angestaubten Organ wie den Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung als affirmativ-gouvernementaler Basso Continuo durchschlägt. Inzwischen seien der spezifisch österreichische Opfermythos und die Ausblendung der Mitschuld am Zivilisationsbruch der Nazis zwar überwunden, doch zeige sich weiterhin – so die beiden Herausgeber – eine problematische Nähe von Zeitgeschichte zum österreichischen Nation Building. Dies sei auch an der auffallenden, sachlich nicht zu begründenden Nervosität abzulesen, mit der die österreichische politische Öffentlichkeit auf die sich häufende Berufung deutscher Staatsangehöriger auf die heimischen Professuren reagiere.

Disziplinären Standortbestimmungen haftet oftmals der Eindruck eines ermüdenden Wimmelbildes an. Die vorliegende Dokumentation bildet hier auf den ersten Blick keine Ausnahme; das Fehlen von orientierenden Abstracts und Indices macht die Benutzung des regelrechten Buchziegels nicht gerade einfacher. Man ist also einzig auf die Gesamtgliederung der vielen Beiträge angewiesen, die nach einem insgesamt brauch- und belastbaren Ordnungsschema erfolgt. Die handbuchartigen Einzelbeiträge sind in den Großkapiteln „Epochen und Zäsuren“, „Felder und Themen“ sowie „Verhältnisse“ gruppiert. Sie tragen selbst jeweils knappste, lexikonförmige Titel, die zumeist sympathische Nüchternheit verströmen und aufgrund ihrer Fülle hier nur exemplarisch angerissen werden können. Dass die Überschriften der Texte zugleich schon Statements sein können, verdeutlicht Florian Wenningers Beitrag „Austrofaschismus“. Ausführlich lässt der Autor die Diskursgeschichte Revue passieren und beleuchtet die Grabenkämpfe um die angemessene Bezeichnung des österreichischen Regimes der Zwischenkriegszeit, um dieses schließlich autoritativ zu bestimmen als „österreichische Spielart eines Diktaturtypus, der ideologisch primär negativ konnotiert war und sich neben einem Führerprinzip vor allem durch eine spezifische, nämlich aktivistische Form der Herrschaftsausübung auszeichnete“ (S. 67, Anm. 2). Anregend sind die bei Wenninger und weiteren Autor:innen zu findenden Ausführungen über eine landestypische „Koalitionsgeschichtsschreibung“ – diese Kritik zielt auf die stillschweigend geübten Arbeitsteilungen und Sprachgebote, die den Mainstream der konsensorientierten akademischen Zeitgeschichtsschreibung der Zweiten Republik prägten.

Zu wichtigen Differenzziehungen stoßen auch die Ausführungen von Georg Hoffmann über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg sowie von Bertrand Perz über den Holocaust vor. In beiden Texten wird der spezifisch österreichische, durchaus wesentliche Anteil an Massengewalt und Zivilisationsbruch präzise herausgearbeitet und sowohl vor dem Hintergrund der fragmentierten medialen Diskussion wie auch der kaum noch zu überblickenden Literatur facettenreich dargestellt. Man spürt förmlich, wie die Abkehr vom tradierten Geschichtsnarrativ der 1980er-Jahre die Paradigmenkerne der österreichischen Forschung neu geformt und diese zu glokalen Perspektivierungen befähigt hat, die weit über ihren mitteleuropäischen Gegenstand hinausweisen. Eingefügt werden hier ebenso die aktuellen Debatten um Wiens hochproblematisches Heeresgeschichtliches Museum, die berechtigte Forderung nach stärkerer Berücksichtigung österreichischer Standpunkte in der NS-Täter:innenforschung, die bessere Aufhellung des Konstrukts der „Volksgemeinschaft“ oder der Wunsch nach weiterreichender Trans- und Internationalisierung der österreichischen Holocaustforschung, ohne diese im gewiss anregenden Kontext einer allgemeinen Gewaltgeschichte wiederum zu marginalisieren.

Der vielleicht auffälligste Sachverhalt des Buches ist semantischer Art. Es ist frappierend zu beobachten, wie sehr die Begrifflichkeiten von Gedächtnis und Erinnerungskultur (Ljiljana Radonić / Heidemarie Uhl), Postkolonialismus (Eric Burton), Public History (Stefan Benedik / Lisbeth Matzer) und Geschlecht (Martina Gugglberger) nicht nur in den genannten, themenzentrierten Beiträgen zu zentralen Kategorien intellektuellen Argumentierens aufgerückt sind. Sie eröffnen neue Perspektiven auf alte Fragen gerade dort, wo sie nicht als geläufige Tropen und fachinterne Codes verwendet werden, und das ist in der Publikation angenehm selten der Fall. Fruchtbar wird diese Haltung beispielsweise, wenn sich die Betrachtung auf die Darstellung von Zeitgeschichte im Fernsehen und in Videos richtet, ein aus akademischem Blickwinkel allzuoft verschmähtes Phänomen (Renée Winter). Es ist weit mehr als eine produktive Abschweifung, der Ausfaltung von Erinnerungspolitiken im Medium des allgegenwärtigen Geschichtsfernsehens nachzuspüren. Der Beitrag rezensiert nicht nur wohlinformiert die stark segmentierte, vielfach auch nur in ungedruckten Abschlussarbeiten vorliegende und damit schwer greifbare Literatur. Er weist den historischen Medienkonstellationen, ihren fragmentarischen Ansätzen zur Selbsthistorisierung und nicht zuletzt den Archivpolitiken der Medienanstalten einen präzisen geschichtlichen Ort zu und erschließt auf diese Weise ein Forschungsfeld eigener Größe, das darüber hinaus im Bereich der Videokunst durch gegenkulturelle und (auto-)biographisch zentrierte Techniken die überlieferten Forschungskonventionen ästhetisch aufbricht und methodisch hinterfragt.

Eine besondere Verschränkung von kritischer historiographischer Praxis und ethisch-politikrelevanter Dimension ist mit der Frage des NS-Vermögensentzugs („Arisierung“) und der Restitution bzw. Opferentschädigung gegeben (Birgit Kirchmayr). Die auch in Österreich seit den 1990er-Jahren virulent gewordene Debatte um NS-Raubkunst und die seither angestoßene intensive Provenienzforschung haben das Tätigkeitsfeld von Zeithistoriker:innen nachhaltig verändert. NS-bezogene Forschungsgebiete wurden durch die Kommission für Provenienzforschung und die Historikerkommissionen der Republik Österreich maßgeblich ausgeweitet – im Ergebnis haben sie den Blick für einen spezifisch österreichischen Faschismus geschärft, der nun nicht mehr umstandslos im größeren Komplex des Nationalsozialismus bzw. deutschen Faschismus aufgeht, sondern als eigene Tatverantwortung wahrgenommen werden kann. Treten die anwendungsorientierten, auf materielle Wiedergutmachung zielenden Aspekte naturgemäß nach und nach zurück, so schlägt nun immer deutlicher eine gesellschaftspolitische Dynamik durch, die eine breite Wahrnehmung des totalitären Unrechtscharakters in der Öffentlichkeit weit jenseits von publizistischen Anstrengungen ermöglicht und die deutliche Erosion des österreichischen Opfermythos beschleunigt hat. Das Verschwinden von Zeitzeug:innen gebietet eine neue Verstetigung des erinnerungskulturellen Referenzrahmens, der sich nicht zuletzt im Zusammenhang des Gedenkjahres 2018 mit der innovativen Neugestaltung von zentralen musealen Orten (Haus der Geschichte Österreich) und Gedenkstätten (Mauthausen Memorial) zu verändern beginnt (Georg Hoffmann). Nicht verschwiegen wird hierbei die aus der Sicht der Forschenden immer noch heikle Frage der Mittelbeschaffung, die häufig in einen Verdrängungswettbewerb mündet und damit ein deutlich spürbares Konkurrenzverhalten mit Inklusions- und Exklusionsstrategien entstehen lässt.

Fast ein Drittel des Bandes ist den Beziehungs- und Verflechtungsgeschichten zeithistorischer Forschung gewidmet. Es mag zunächst wie eine akademische Übung wirken, das Verhältnis von Zeitgeschichte in Einzelbeiträgen zu Wirtschaftsgeschichte, Umweltgeschichte, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaften, Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft, Jüdischer Geschichte, Queer Studies, Politischer Bildung, Geschichtsunterricht, Internationaler Geschichte, Museen und Archiven der Reihe nach auszuloten. Auffällig ist zugleich, was hier fehlt – etwa Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Religionswissenschaften, aber auch Militärgeschichte, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Technikgeschichte, Medizingeschichte. Das kann verständliche pragmatische Gründe haben, zeigt allerdings, dass selbst ein so voluminöses Kompendium kaum „umfassend“ sein kann. Die Gesamtanlage des Bandes vermittelt den Eindruck, dass es eine Dominanz von im weiteren Sinne kulturgeschichtlichen Paradigmen gibt. Das spiegelt die aktuelle Forschungssituation seit ca. Ende der 1990er-Jahre sicher treffend wider, bedeutet aber auch, dass wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zugänge gegenüber den 1970er- und 1980er-Jahren etwas in den Hintergrund getreten sind (anders als etwa in der Schweiz, wo solche Perspektiven heute stärker ausgeprägt sind und dabei kulturgeschichtlich durchaus informiert erscheinen)2. Dennoch besticht die katalogmäßige Enquete – auf rund 250 Seiten – durch eine auch geschichtsdidaktisch anregende Interdependenzannahme, die eine Auffassung von zeithistorischer Praxis als Solitär, ja insgesamt geschichtswissenschaftlichen Handelns im inselhaften, arbeitsteiligen Verfahren nachgerade unmöglich erscheinen lässt. Der dicht geschriebene Block argumentiert unter der Hand auch gegen eine antagonistische Auffassung von Wissenschaft(en) und favorisiert deutlich hybridisierte, für Konzepte aus Nachbarfächern offene Forschungsformen.

Dies wird, um hier nur einen Beitrag herauszugreifen, an den sexualitätsgeschichtlichen Überlegungen von Elisa Heinrich und Johann Kirchknopf deutlich. Zum einen weist der Text auf überzeugende Weise den Vorwurf unwissenschaftlicher Parteilichkeit zurück, der bisweilen gegen Homosexualitätengeschichte und Queer Studies erhoben wird, indem er den Blick auf Prozesse der Konstruktion von Identitäten und Zugehörigkeiten lenkt und damit die oftmals schablonenhafte Suche nach historischen Subjekten entlastet. Andererseits nimmt er eine Art Laborsituation in den Blick – die im Buchtitel rhetorisch beschworenen „Zeiten des Umbruchs“ zeigen sich auf dem Feld von Geschlecht und Sexualität besonders deutlich. So sind etwa Migrationspolitiken und globale Ungleichheitsverhältnisse zu zentralen Orten der Neuverhandlung von Heteronormativität geworden, und eine queere Zeitgeschichtsforschung liefert hier erhebliche kategoriale Anregungen für neue Theoriebildungen, die mit Stichworten wie Performativität, Fluidität und Anti-Essentialismus verbunden sind. Dies läuft auch auf ein Plädoyer dafür hinaus, den Austro- und Eurozentrismus zeitgeschichtlicher Forschung noch stärker aufzubrechen als bisher und diese Neuorientierung an Universitäten und Akademien auch personalpolitisch abzubilden (Elisabeth Röhrlich).

Abschließend lässt sich sagen, dass die Publikation das Bild einer vitalen Zeitgeschichtsszene in Österreich abgibt, die sich anschickt, ihre transnationale Orientierung zu verstärken, ohne dabei spezifisch österreichische Themenbereiche aufzugeben. Wohltuend ist, dass der üppige Band nicht vor sich hin mäandert oder die Leser:innen mit Historiographie-Sprech zermürbt, wiewohl selbstverständlich auch fachsprachlich und damit disziplinenbezogen argumentiert wird. Die gute Mischung von arrivierten Autor:innen und Nachwuchs-Historiker:innen trägt zu diesem positiven Gesamteindruck bei. Man spürt die ordnende Hand der Herausgeber Marcus Gräser und Dirk Rupnow, des Peer Reviews und nicht zuletzt die gewiss erheblichen Mühen der Vereinheitlichung, die Martina Blum übernommen hat. Alles in allem bietet der Band eine solide Bilanz, die man gern zur Hand nimmt, um sich zuverlässig zu orientieren oder um ihr weitergehende Anregungen für Forschungsvorhaben und Themenentwürfe zu entnehmen.

Anmerkungen:
1 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994; Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1934, München 1976; Heidemarie Uhl, Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem Anschluss, Wien 1992.
2 Vgl. hierzu bereits Christof Dipper, Die Geburt der Zeitgeschichte aus dem Geist der Krise. Das Beispiel Schweiz, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven in Europa, Göttingen 2004, S. 149–174.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension